Der Bus aus Listwjanka ist ziemlich voll, einige stehen sogar. Ich sitze ganz hinten, und irgendwie verpasse ich rechtzeitig auszusteigen, so dass ich bis zur Endstation am Busbahnhof fahre. Das macht zwar nichts, aber ist halt ein längerer Weg bis zum Hotel. Dort komme ich dann so um 13 Uhr an und bringe erstmal mein Gepäck aufs Zimmer. In Irkutsk ist an sich sehr schönes Wetter, aber mit 16 Grad ist es nicht besonders warm.
Dann starte ich einen Stadtrundgang. Zuerst zum ewigen Feuer am Flußufer. Dort sind mehrere Hochzeitsgesellschaften mit ihren Fotografen unterwegs, die sich vor allerlei Motiven ablichten lassen. Außerdem wimmeln ein paar Reisegruppen mit Asiaten umher. In Irkutsk gibt es viele alte ein- oder zweistöckige Holzhäuser, anfangs gab es in Sibirien noch keine Backsteinbrennereien. Von denen sind einige gut erhalten, andere sacken ab oder sind vollkommen heruntergekommen. Mit den ganzen Holzhäusern erinnert Irkutsk meiner Meinung nach bisschen an eine Stadt im Wilden Westen.
Von dort gehe ich weiter ostwärts, vorbei an ein paar Kirchen, bis zur Moschee der Tataren. Was mir unterwegs auffällt, ist dass es in Irkutsk an jedem größeren Platz Lautsprecher an den Laternenmasten gibt, aus welchen ein Radioprogramm läuft, einschließlich Werbung. Außerdem gibt es relativ viele Straßenhunde, welche mir zuvor in Russland noch nirgends aufgefallen sind. Und sonst noch auffallend: viele Autos ohne Frontstoßstange. Vielleicht passieren hier sehr viele Unfälle (wonach der Verkehr aber eigentlich nicht aussieht)?
Von der Moschee laufe ich Richtung Süden, zum Fluß. Unterwegs trinke ich noch einen Kaffe mit Tee und Gebäck. Am Flußufer laufe ich über einen Damm auf eine Insel im Fluß. Dort gibt es einen kleinen Vergnügungspark. Weiter hinten auf der Insel gibt es eine auch auf der Landkarte vermerkte Eisenbahn. Auf einem Schild am zugehörigen Bahnhof steht etwas von einer Spielzeugeisenbahn der Russischen Staatseisenbahn. Die Gleise haben aber ungefährt Meterspur, und es stehen auch einige Waggons auf dem Gelände. Für eine Spielzeugeisenbahn scheint mir das alles ein bißchen überdimensioniert, aber gut.
Zurück auf dem Festland komme ich noch an einer Statue von Juri Gagarin vorbei, das war der erste Kerl im All. Von dort gehe ich nochmal kurz ins Hotel um die Jacke zu holen, seit die Sonne weg ist hat auch die Temperatur spürbar abgenommen. Weil es eh schon um 8 herum ist gehe ich auch gleich essen, ins Restaurant des Hotel Rus. Dort gibt es Pelmini und danach einen Hackbraten mit Zwiebeln und Ei drauf; zu trinken Разливное пиво . Zum Abschluss (ist ja mein letzter Abend in Russland) will ich noch etwas Vodka trinken. Ich suche mir einen von der Karte aus und bestellt – und bekomme eine Karaffe mit 0,1 Litern. So viel wollte ich eigentlich nicht, aber stehen lassen kann ich den natürlich auch nicht…
Am nächsten morgen stehe ich um viertel nach sieben auf, und dusche erstmal. Leider zuerst nur eiskalt, erst nachdem ich die Haare schon eingeseift habe wird das Wasser nach und nach wärmer. Die Dusche ist auch irgendwie eine sehr komische zusammengezimmerte Konstruktion, wahrscheinlich einfach nachträglich in einer Nische eingebaut. Auf jeden Fall steht das Wasser danach in diversen Senken, die im Bad verbaut sind.
Mit der Tram fahre ich zum Bahnhof, kaufe mir dort an einem Kiosk noch eine Art Hot-Dog und ein süßes Stück und gehe dann zum Zug. Der fährt gerade ein, als ich den Bahnsteig betrete. Was als erstes auffällt sind die Waggons. Die sind nämlich chinesisch, aber von deutscher Bauart wie das Typschild anzeigt. Von innen unterscheiden sie sich aber nur in Details von den typischen russischen Nachtzugwagen. Einerseits durch andere Beschriftung (chinesisch natürlich), andererseits durch fehlende Kleinigkeiten – kein Toilettenpapier auf dem Klo (dafür Seife, das gab es in den russischen Wagen nie), kein Snackverkauf beim Schaffner, keine zusätzlichen Matratzen in den Abteilen und keine Handtücher bei der vom Schaffner ausgehändigten Wäsche. Dafür gibt es aber Ventilatoren in den Abteilen.
Im Zug sind eigentlich nur Ausländer anzutreffen, ich glaube mein Waggon ist fast nur von Holländern besetzt (ältere Paare, die sich zu zweit vier Fahrkarten gekauft haben um das Abteil für sich zu haben), abgesehen von den chinesischen Schaffnern. In meinem Abteil schläft ein einzelner Mann als ich es betrete, ich lege aber erstmal nur mein Gepäck ab und gehe nochmal nach draußen. Am Zug läuft gerade ein Mann mit orangener Warnweste und einem Hammer mit sehr langem Griff entlang und klopft an jedem Fahrgestell an mehrere Stellen. Ich vermute mal er erkennt dann am Klang ob noch alles dran ist am Waggon. Zudem fällt mir auf, dass die Schornsteine, die an jedem Waggon vorhanden sind, heute alle rauchen. Es wird anscheinend schon geheizt. Jeder Waggon wird hier einzeln beheizt, und zwar mit einem Kohleofen (den der Schaffner regelmäßig befüllen muss).
Als ich nach Abfahrt des Zuges wieder ins Abteil komme steht mein Mitbewohner gerade auf und stellt sich als Andrei aus Omsk vor. Ich unterhalte mich länger mit ihm, er spricht ein paar Brocken deutsche, die er vor 30 Jahren in der Schule gelernt hat und ist Pastor einer baptistischen Kirche auf dem Weg in die Mongolei, zu missionarischen Zwecken. Er zeigt mir auf seinem Tablett Bilder von seiner Familie und seinem Urlaub. Um die Mittagszeit legt er sich nochmal schlafen und ich gehe in den Speisewagen um zu essen. Dort werde ich erstmal von der Bedienung umgesetzt, weil die Plätze reserviert sind. Als nächstes werde ich gefragt, ob ich frühstücken will (nach Moskauer Zeit wäre es jetzt ca. 8 Uhr früh), aber ich bestelle mir einen Fisch mit Kartoffeln. Die Speisekarte ist hier sogar auf Englisch übersetzt und die Bedienung redet auch englisch. Kurz nachdem ich bestellt habe wird noch ein deutsches Ehepaar mit zu mir an den Tisch gesetzt, weil alle anderen Plätze reserviert sind. Die beiden sind schon seit Moskau in diesem Zug, d.h. noch nicht ausgestiegen, und sind Inhaber vierer Fahrkarten weil die erste Klasse ausgebucht war. Sie erzählen mir, dass sie in Brest nicht nach Weißrussland reingelassen wurden, da sie versäumt hatten, ein Transitvisum zu beantragen. Auf jeden Fall mussten sie dann mit dem nächsten Zug zurück nach Polen fahren und konnten dann von Warschau aus mit dem Flugzeug nach Moskau fliegen, um dort den jetzigen Zug gerade noch zu erwischen. Und sie bestätigen meinen Eindruck dass im Zug eigentlich nur Touristen abhängen. Dass bei mir im Abteil ein Russe sitzt überrascht sie.
Während wir essen füllen sich auch die anderen Tische. Dort wurde vorher schon alles eingedeckt. Es ist eine größere schwedische Reisegruppe, die während dem Essen sogar noch von einer Führerin bequatscht wird.
Die Strecke führt mittlerweile am Baikalsee entlang und man hat einen tollen Ausblick. Man kann im Gegensatz zu den russischen Zügen auch die Fenster relativ weit aufmachen, so dass man gut fotografieren kann. Leider zieht dann aber direkt der Kohlegeruch vom Kamin durchs Fenster herein. Was mir schon die ganze Zeit unterwegs aufgefallen ist, ist die hohe Frequenz an Zügen die einem entgegen kommen, eigentlich alle paar Minuten. Das meiste sind Güterzüge, und alle davon sind extrem lang. In Irkutsk konnte man vom Flußufer ganz gut die vorbeifahrenden Güterzüge auf der anderen Seite sehen, ich schätze dass die durchaus einen Kilometer oder länger sind. Und fast alle sind eine bunte Mischung aus Tankwagen, Schüttgutwagen und Containern.
Andrei ist in Slyudyanka, einem Ort direkt am Baikalsee wo der Zug kurz hält, ganz enttäuscht dass vom Bahnsteig keiner den Omul-Fisch verkauft. Ich habe mich auch schon gewundert dass ich bis auf in Brest noch nirgends jemanden gesehen habe, der Essen und sonstiges Zeug auf dem Bahnsteig verkauft, davon reden doch sonst alle die mit der Transsib gefahren sind. Dafür steht eigentlich an jedem größeren Bahnhof eine große, alte Dampflokomotive als Ausstellungsstück herum.
In Ulan Ude kaufe ich mir dann an einem Bahnhofskiosk Teebeutel, Zucker und ein paar Süßigkeiten nachdem die chinesischen Schaffner ja nichts dergleichen zum Verkauf anbieten (eine Tasse haben sie mir aber freundlicherweise gegeben, und einen Samowar gibt es sowieso). Außerdem steigt dann noch eine dritte Person zu uns ins Abteil ein, ein Chinese, der weder russisch noch englisch spricht, aber uns klarmacht, dass er nach Erlian will, die erste Stadt in China hinter der Grenze. Die Landschaft verändert sich jetzt auch, zuerst verschwinden die ganzen Birken und nur noch grüne Steppe ist zu sehen, dann wir die langsam gelblich. Die Eisenbahnstrecke ist jetzt auch eingleisig und nicht mehr elektrifiziert.
Mitten auf der Strecke bremst der Zug plötzlich scharf ab, so dass sogar die Flaschen auf dem Tisch umfallen. Kurz zuvor habe ich noch Kühe direkt neben der Strecke gesehen und mich gefragt, ob die nicht auch ab und zu auf das Gleis gehen. Und tatsächlich, kurz nachdem der Zug zum Stehen gekommen ist ruft einer von weiter hinten im Waggon, dass eine tote Kuh neben dem Gleis liegt. Eine andere Kuh steht daneben und schaut sehr verwundert. Wir sind im vorvorletzten Waggon, hinter uns kommt nur der russische Speisewagen und ein anderer russischer Wagen (wahrscheinlich für das Personal des Speisewagens), und da der Zug gerade in einer Kurve steht kann man von uns aus den ganzen Zug überblicken. Und da steigt plötzlich ein Mann mit orangener Weste aus der Lokomotive aus, läuft den kompletten Zug entlang und schaut prüfend unter die Fahrgestelle. Wahrscheinlich sucht er nach Resten der Kuh. Nachdem er den ganzen Zug abgelaufen ist läuft er wieder nach vorne und kurz darauf geht es auch schon weiter.
Kurz vor der Grenze habe ich Dostojewski fertig gelesen, jetzt ist Tolstoi dran.